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Neues Deutschland 13.12.2013

Winter da, Wohnung weg

Neue Treberhilfe kündigt Obdachlosenwohnungen. Träger warnen vor Platzmangel

Artikel von Christin Odoj

In den Berliner Notunterkünften für Wohnungslose gibt es jeden Winter Platzprobleme. Auch sonst haben freie Träger das ganze Jahr mit dem steigenden Hilfebedarf zu kämpfen. Nicht alle werden dem gerecht. 

Noch hält sich der Berliner Winter bis auf ein paar zaghafte Ausreißer zurück. Erst langsam zittern sich die Temperaturen zum Wochenende an die Null-Grad-Grenze heran. Für viele der geschätzten 11.000 Menschen, die auf Berlins Straßen leben, hat die tägliche Suche nach einem freien Platz in den 70 Nachtcafés oder Notunterkünften der Kältehilfe trotzdem längst begonnen.

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Der Bedarf an Wohnungen ist schon ohne die 47 ehemaligen Klienten der NTH ausgereizt und wird noch viel höher als die nackten Zahlen der Betreuungseinrichtungen vermuten lassen. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales bündelt jeden Tag die freien Plätze in einer zentralen Datenbank, die Bezirke melden dann ihren Bedarf bei der Unterbringungsleitstelle an. Um sieben Uhr früh werden dort die vorhandenen Plätze vergeben. "Regelmäßig sind um halb acht alle weg", erzählt Petra Heinze, sie ist Fachleiterin bei der Wohnungslosenhilfe "Neubeginn".

Wie viele Menschen keine Wohnung haben und nur zeitweise bei Freunden untergekommen sind, weiß keine Statistik zu sagen. In den letzten zwei Jahren ist aber allein der Bedarf an Plätzen in den Notunterkünften um fast 50 Prozent auf knapp 6300 gestiegen. 1500 zusätzliche Plätze mussten geschaffen werden.

Michel Feller ist 23 Jahre alt und einer von denen, die in keiner Statistik auftauchen. Er hat zwei Jahre lang in einer Einraumwohnung gelebt und das zu viert. Ein Bekannter hatte ihm das Angebot gemacht, mit in seiner Wohnung im Wedding zu wohnen, dafür sollte Michel dann über 150 Euro Miete zahlen. Von seinem mickrigen Ausbildungsgehalt konnte er sich keine eigene Wohnung leisten, da war das noch die attraktivste Lösung, fand er. Als ihn aber sein Arbeitgeber darauf ansprach, dass er oft übermüdet und unkonzentiert wirkte, war klar, dass er da raus muss. "Mit drei anderen Menschen im Zimmer ist es schwer zu sagen: Ich möchte jetzt gerne schlafen", erzählt Michel. Bei seinen Eltern hielt er es nicht lange aus. Ihre Grundsicherung reicht nur für eine kleine Wohnung, in der für ihn nur in einer winzigen Abstellkammer Platz war. Seit August lebt Michel in einer Vierer-WG, die "Neubeginn" für Jugendliche wie ihn anbietet. Erst in dieser Woche hat er auf Nachdruck seines Betreuers eine Wohnung bei der Degewo zugesagt bekommen, die ein Extrakontingent für Azubis bereithält.

Auch Manfred Mattulat hat bei "Neubeginn" eine Wohnung bekommen. Vorher lebte er in einer Gartenlaube einer Bekannten. Aus seiner Wohnung war er geflogen, weil ihm seine Spielschulden über den Kopf wuchsen. "Ich konnte mir manchmal noch nicht mal eine Bockwurst am Tag leisten", erzählt der 70-Jährige. Dann stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Dass er 15 Jahre lang im Gefängnis saß, erleichtert die Wohnungssuche nicht.

Bei "Neubeginn" leben derzeit 35 Menschen im sogenannten betreuten Gruppenwohnen oder allein. Die Wohnungen hat der Träger angemietet. Für jeden Klienten steht, je nachdem wie intensiv er betreut werden muss, ein Tagessatz zwischen 22 und 25 Euro zur Verfügung. Die Betreuungszeiten sind nach einem Schlüssel des Sozialamtes streng geregelt. 4,32 Stunden pro Woche stehen einem Menschen demnach zu. "Es kommt schon vor, dass Betreuer mit ihrem Klienten vier Stunden im Wartesaal des Jobcenters verbringen", erzählt Heinze. Die restliche halbe Stunde bleibt dann, um die wöchentlich anfallenden Papiere für die Dokumentation auszufüllen.

[Neues Deutschland, Freitag, 13.12.2013]